Ein Kapitel für sich: Partnerschaft und MS

Wie viele durch diese Krankheit zerstörte Beziehungen haben wir gesehen? Sogar Schlimmeres: zerstörte Menschen und sich gegenseitig zerstörende, ja tötende Menschen.
Wieso sind wir zusammen geblieben und zusammen alt geworden?
Am Anfang unserer Beziehung war das gar nicht so klar, was daraus werden sollte. Bei anderen bekannten Paaren fiel der Krankheitsausbruch in ein bereits ausbalanciertes und auf eine ziemlich klare Zukunft angelegtes Bündnis. Wir dagegen hatten demgegenüber einen gewissen Vorteil, dass wir wussten, auf was wir uns einließen. Die Zukunftserwartungen konnten gar nicht in den Himmel schießen mit Familien- und Kinderwünschen oder anderen Lebensentwürfen.
Wir versuchen in einem Wechselgespräch darzustellen, wie wir unser Zusammenleben heute sehen:
Peter: Für mich war unsere Begegnung eine Sache ganz in der Gegenwart. Eine Vorstellung von Zusammenziehen, Wohnung einrichten oder gar Kinder bekommen hatte ich überhaupt nicht.
Ich wollte dir beim Studium helfen, wir verliebten uns und du wurdest meine Freundin. Ich glaube, dass wir rasch vertraut miteinander wurden. Wir fanden ähnliche Interessen, ich mochte deine Intelligenz, deine Schönheit. Ich war nicht aus auf Ausgehen, Partys feiern, viele Freunde, Reisen, - du vielleicht schon, aber du konntest nicht mehr: da waren beide Außenseiter.
Ich empfand mich ja als am Rande stehend und wusste selber noch nicht recht, was aus mir werden würde. Ob ich mir etwas ausmalte, was mit uns später werden könnte, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich habe ich das weggeschoben.

Doris: Zunächst habe ich gezögert, ich wollte nicht mit dem Feuer spielen. Aber als wir dann verliebt waren, hat es mir sehr gefallen. Dabei habe ich eher dich verführt als umgekehrt. Und ich hatte ein großes Bedürfnis die sexuelle Seite auszuleben.
Aber eine auf Dauer gerichtete Perspektive hatte ich auch nicht. Das war alles auf den Moment bezogen. An Kinder war nicht zu denken, deshalb war mir das Verhüten sehr wichtig. Erst in Dietenbronn im Jahr darauf oder noch später hat einmal ein sehr sympathischer Frauenarzt erklärt, dass das mit MS und dem Kinderkriegen nicht so kompliziert sei. Danach hätte ich nicht abgetrieben, falls... Jedoch waren mir Kinder nicht sehr wichtig, Babys habe ich nie gerne gehabt.
Die Warnung mit der Zukunft kam von unseren Familien. Meine Mutter meinte, ich sollte nichts mit dir anfangen. Es wäre leichter für mich so, weil es am Schluss nur um so schmerzlicher sei, sich dann trennen zu müssen.

Peter: Ja, meine Familie wollte mich auch dazu bringen, einen „realistischen“ Weg einzuschlagen, das hätte doch keine Zukunft mit uns. Darauf habe ich mich ziemlich stark von Geschwistern und Eltern zurückgezogen. Und meine Eltern haben dich ja mehr oder weniger geschnitten.
Wir haben in den ersten Jahren nicht daran gedacht zusammenzuziehen. Jeder hatte ja seine Studentenbude. Wir haben darüber wahrscheinlich nie geredet, es galt als unmöglich. Ich bin ziemlich sicher: Wenn du mich damals aufgefordert hättest: „Zieh mit mir zusammen!“, dann wäre ich ausgestiegen. Das war undenkbar für mich, da hatte ich doch noch zu viele offene Zukunftserwartungen.
Meine Hauptstrategie war wohl, wichtige Entscheidungen hinauszuzögern. Damals war ich im ersten Teil des Staatsexamens. Es hat sich angeboten, ein Stipendium zu beantragen, um eine Dissertation zu schreiben. Das habe ich getan, obwohl mir klar war, dass ich mit hoher Wahrscheinlichkeit dann doch Lehrer würde. Aber für uns war das ein Aufschub von drei Jahren, in denen du dein Studium fast zu Ende bringen konntest.
Die Offenheit der Beziehung war also für mich wichtig. Nach unserer gemeinsamen Vorstellung wollten wir auch kein Besitzverhältnis leben. Als du dann mit anderen Männern kurze Beziehungen eingegangen bist, hat mir das schon viel ausgemacht. Aber andererseits betonte das auch die Offenheit und das hat mich erleichtert. In Gedanken spielte ich die Möglichkeit durch, dass du zu einem anderen gehst.
Der nächste Aufschub war dann die Wohngemeinschaft.

Doris: Als sich die WG aufzulösen begann, war ich sehr dahinter her, die sich abzeichnende Möglichkeit mit den Zivildienstleistenden zu beschleunigen. Als es dann soweit war, wollte ich möglichst bald aus der WG ausziehen. Ich habe den Umzug, die Einrichtung der neuen Wohnung zu einem guten Teil mit dem Zivi allein organisiert.
Damals trat mein schlechtes Gewissen dir gegenüber ganz in den Hintergrund. Denn nun war nicht nur jemand für mich da, ich konnte auch etwas für dich tun: Sachen für dich einkaufen, Anschaffungen machen, für uns planen...
Aber immer noch war mein Denken kurzfristig. Wie mir heute vorkommt, dachte ich etwa in einer Frist von etwa drei Jahren. Das war immer noch nicht „für’s Leben zusammen“.
Aber sicher wuchsen wir jetzt noch mehr zusammen, weil wir zusammen waren. Wir haben zum Beispiel die Schulferien fast immer für Urlaube genutzt, teilweise für weite Autofahrten (Österreich, Tschechoslowakei, Frankreich) oder auch für Flugreisen. Mit dem Rollstuhl war das damals Mitte der 70er noch eher etwas Besonderes. Vielleicht waren wir manchmal mit die ersten bei einer Fluglinie.

Peter: Für mich war das Ende der WG wahrscheinlich eine der wichtigsten Weichenstellungen in meinem Leben. Ich hatte große Bedenken, ja Angst, mich von diesem Projekt zu verabschieden. Nun sollte ich also allein verantwortlich sein. Sicher ein Zivi war da, aber war sicher, ob das auf Dauer so sein würde? Ich erinnere mich, dass ich damals sehr gezögert habe.
Für mich war es sehr hilfreich damals, dass ich mich zusammen mit dir mit der Gestaltpsychologie beschäftigt hatte. Du hast ja mehrere eindrucksvolle Gestaltgruppen mitgemacht. Wir lasen Fritz Perls und Laura Perls. Das hat mir klar gemacht, dass ich nicht „auf dem Messer reiten“ sollte, also dass ich mich entscheiden musste und die Verantwortung für die Entscheidung voll übernehmen sollte. Dann würde ich sehen, was passierte. Im Grunde habe ich das gleiche vorher auch nach der Dissertation und der Berufsentscheidung so gemacht: Ich erinnere mich, dass ich meine ganzen wissenschaftlichen Exzerpt- und Fotokopien-Krempel teils weggepackt, teils fortgeschmissen habe. Auf ein oder zwei Einladungen zu Kongressen oder Seminaren habe ich nicht einmal reagiert.
Und ähnlich habe ich das dann mit den Zukunftsplänen zu machen versucht. Wir haben diesen Appell übernommen und uns oft gegenseitig wiederholt: Sich nicht den Kopf voll mit Wünschen, Träumen, Erfolgsphantasien zu machen, sondern auf das Jetzt zu reagieren. Denn die Gefahr ist groß, dass du in Selbstmitleid umkippst, den anderen für deine Lage verantwortlich machst. Es war klar, das wäre das Ende. Vor allem das von Laura Perls beschriebene Commitment wollte ich praktizieren: mich auf die gewählte Situation bewusst einlassen. Jahre später noch, so erinnere ich mich, habe ich mir mindestens einmal in der Woche intensiv bewusst gemacht: Ich bin frei, ich kann weggehen, ausziehen, die Beziehung abbrechen. Will ich das oder will ich das nicht? Wenn ich es nicht will, dann übernehme ich auch die Verantwortung dafür.
Auf diese Weise gelang es, viele Schwierigkeiten einzubinden. Nur ganz selten habe ich dich (offen oder innerlich) beschuldigt, mich „zu dieser Art Leben“ verurteilt zu haben.

Doris : Das habe ich nicht gewusst oder vergessen. Das finde ich sehr schön.

Aquarell: Selbstbildnis Peter Ja das macht jetzt alles einen sehr abgeklärten Eindruck. Als ob alles aufgegangen wäre in einem Gleichgewicht. Aber trotzdem ist es immer wieder schwer gewesen. Die vielen Verzichte... Oft nicht dazu zu gehören, Einladungen nicht annehmen zu können, auch eine gewisse Vereinzelung...
Oft konnte ich gar nichts antworten, war wie erstarrt. Diese Gewalt, wenn die Krankheit zwar langsam, aber unabwendbar und mitleidlos voranschritt. Was konnte ich da sagen, wenn du weintest, depressiv warst?
Es geht also nicht alles auf, wir hatten viel Leid und Entbehrungen. Dieser aufgezwungenen Hilflosigkeit ausgesetzt zu sein, das ist das Schlimme. Und das war ja nicht nur einmal, das gab es immer wieder. Hin und wieder kamen ein Zeit der Schonung. Aber gerade in den letzten Jahre haben die Verschlechterungen fast nie aufgehört. Mochte ein gewisses Gleichgewicht gefunden sein, schon verschiebt sich dein Zustand wieder zum Schlechtern. Wie neidisch blickten wir manchmal auf Querschnittgelähmte: die sind nur behindert!

Doris Dabeibleiben, dableiben und standhalten... Du bleibst da, ich kann mich auf dich verlassen. Du kannst dich auf mich verlassen. Du wirst mich nach diesen beinahe vierzig Jahren gemeinsamen Lebens und Durchlebens, die von MS - Schwierigkeiten begleitet, getränkt sind, nicht verlassen können und wollen.