Fahr lieber mit der Bundesbahn!

Ich hatte mein Abitur abgelegt, ich hatte es gut gemacht, den Kunstpreis bekommen und den Preis für gute Noten. Ich erinnere mich: Als ich in der Heilbronner Festhalle „Harmonie“ vom Direktor die Preise entgegengenahm, da hatte ich schon ziemliche Gleichgewichtsstörungen. Ich ging mit unsicheren Schritten nach vorne und war froh, als ich wieder sitzen konnte.
Ich hatte vorher beschlossen, dass ich zum Psychologiestudium nach Heidelberg, Mannheim oder Freiburg gehen würde. Und das wollte ich jetzt in die Hand nehmen. Tatsächlich erhielt ich kurz darauf von Heidelberg die Zulassung. Mein Vater hatte mir ein kleines Auto gekauft und ich hatte schon die Fahrprüfung gemacht. Denn es war klar, dass ich ein Fahrzeug brauchen würde.
Aber da haben mir meine Eltern gesagt: Eine Verwandte mit ähnlichen Symptomen wie ich, die Christel Mauser, würde in eine Klinik gehen, wo solche Krankheiten behandelt würden. Ich solle doch mal mitgehen, ich hätte doch jetzt Zeit bis zum Semesterbeginn. Ich habe gedacht: Na ja, wenn es andere gibt, denen es auch so geht wie mir und eine Klinik solche Leute behandelt, dann gehe ich da mal hin.
Ich erinnere mich, dass ich am Wochenende vor der Abfahrt noch einmal mit meinem langjährigen Freund Wolfgang spazieren gegangen bin. Das sollte unser letzter Spaziergang gewesen sein.

Es handelte sich um die Eversklinik im Sauerland, eine nette kleine Klinik, mit vielleicht 30 Patienten auf zwei Stationen. Sie war hübsch gelegen am Sorpe-See, landschaftlich sehr schön. Es war wieder interessant für mich, die Patienten kennen zu lernen.
Nun zeigte sich, dass die Behandlung dort vor allem in einer Umstellung der Ernährung bestand: ur naturbelassene Nährstoffe sollten gegessen werden. Es gab die sogenannte Eversdiät: gekeimte Weizenkörner – es kam auf den Keim an -, Milch naturbelassen vom Bauern direkt, Vollkornbrot, möglichst ungesalzen, kein Salz, viel frisches Obst, Nüsse und rohe frische Eier. Überhaupt alles ungekocht. Das gab es jeden Tag: Ei verquirlt mit Honig.
Daneben galt: viel Ruhe, Gymnastik, Kneippgüsse, Wassertreten sollte man, kalt duschen. In einer offenen Liegehalle sollten wir uns ausruhen. Man lag in Decken eingehüllt in Liegestühlen im Freien unter einem Dach in der frischen Luft. Es war eigentlich eine ganz bequeme ruhige Zeit.
Kaum zu glauben: ich ahnte immer noch nicht, was ich für eine Krankheit hatte. Ich merkte, dass die Leute, die hier waren, alle nur unsicher gehen konnten und Gleichgewichtsprobleme hatten so wie ich. Alle waren recht fröhlich, man redete nicht über die Krankheit...
Ich hatte in Heilbronn natürlich schon meinen Arzt gefragt, wie diese Krankheit heißt. Der nannte mir dann den nicht so bekannten griechisch-lateinischen Namen Enzephalitis disseminata. Ich habe es dabei belassen, als ob ich es nicht wissen wollte. Ich hätte ja nachschauen können, was das bedeutet. Irgend wie habe ich geahnt, dass diese Krankheit immer schlimmer wird, dass ich immer mehr Funktionen verliere. Aber ich habe Scheuklappen aufgehabt. Ich wollte es nicht wissen, denn dumm bin ich ja eigentlich sonst nicht.
Nun hing da im Aufenthaltsraum der Eversklinik ein großes Foto-Werbeplakat der Eisenbahn. Und auf einem Plakat stand: Bei M(atsch) + S(chnee): Fahr lieber mit der Bundesbahn!“ Irgendjemand hatte das Plakat bearbeitet, und nun stand da: Bei M . S geh lieber gleich zu Doktor Evers. Tagelang hatte ich das gar nicht beachtet, doch dann fiel irgendwann plötzlich mein Blick darauf und da verstand ich auf einmal, was meine Krankheit war. Plötzlich wurde mir alles klar...
Mir war gleich bewusst, dass das nun das Ende der Beziehung mit Wolfgang sein würde. Die wenn auch schwach vorhandene Perspektive einer Fabrikanten-Ehefrau, war damit endgültig zerstört. Er war der älteste Sohne eines Maschinenbaufabrikanten und studierte an der Technischen Uni und sollte den Betrieb übernehmen.

Ich kam kränker heim, als ich hingefahren war. Die Gehstörungen hatten sich verstärkt. Ein Waldspaziergang wäre nicht mehr möglich gewesen. Mein Freund hat mich gleich nach der Rückkehr von der Eversklinik besucht... Ich habe ihm gesagt, dass ich MS habe und dass nun alles anders sei. Ich wüsste nicht, wie es weitergehen sollte. Zu unserer Beziehung habe ich gesagt, dass wir nun wohl auf die Dauer nicht mehr zusammen bleiben würden. Ich würde es verstehen, wenn er einen Schlussstrich machen wollte. Aber ich würde ihn bitten, jetzt noch bei mir zu bleiben, weil ich ihn jetzt brauche. Da sagte er beim Abschied an der Türe: „Das ist ja sowieso nur noch Schauspielerei gewesen die letzten Monate.“ Da habe ich gesagt: „Dann geh!“ Und habe hinter ihm die Tür zugeschlagen und habe mich hingesetzt und losgeheult. Es war aus. Aber ein kleines Gefühl der Befriedigung war schon da, ich fühlte, dass ich in der Situation stärker gewesen war als er.
Seitdem habe ich ihn nie wieder gesehen, nie wieder etwas von ihm gehört. Drei Jahre lang war ich die meisten Wochenenden mit ihm zusammen gewesen. Ich war in seiner Familie akzeptiert und wohl auch geschätzt. Er hatte einen behinderten Bruder, der mich sehr mochte. Im Sommer waren wir meist auf dem Segelboot der Familie, das in Lauffen auf dem Neckar lag.
Ein halbes Jahr später hat er geheiratet.

Nach diesem Abschied kam mein emotionaler Absturz. Ich habe nicht mehr geweint. Eine Starre kam über mich und breitete sich im ganzen Körper aus. Das Gefühl: „Es ist aus. Du hast keine Zukunft, du hast MS. Du hast auch kein Recht zu studieren.“ Ich las nicht mehr, hörte keine Musik mehr und saß nur da. Ich saß da und legte Patiencen. Ununterbrochen. Meine Mutter fürchtete, dass ich verrückt werde. Dann kam das schreckliche Mitleid der andern. Die Nachbarn, die Verwandten kamen und brachten Geschenke: eltenes Obst, Ananas, später im Winter südafrikanische Trauben... Das Buch „Um Füße bat ich, aber er gab mir Flügel“ habe ich mehrfach geschenkt bekommen.
Es war furchtbar. Alle meinten es doch so gut und ich sollte doch noch dankbar sein.